Tag 62: Von Tulcea bis Crisan – 47,5 km – 10:00 Stunden – 15.918 Paddelschläge – Gesamtkilometerstand: 2.429,5 km

Tag 62: Von Tulcea bis Crisan – 47,5 km – 10:00 Stunden – 15.918 Paddelschläge – Gesamtkilometerstand: 2.429,5 km

19.09.2019. Das Donaudelta, es ist eine Attraktion, die immer mehr Touristen anzieht. Es ist die Suche nach der Ruhe in der Natur, die einzigartige Wasserlandschaft, fernab von Straßen, Städten und Lärm, und vor allem die unzähligen Tiere, die von überall beobachtet werden können. Riesige Anglerscharen, mit bestem Hightech und neuster Angelkleidung ausgestattet, schwärmen täglich aus und erfreuen sich an den seltenen Fischen. Kanuten und Kajaken rudern zu den entlegensten Stellen des Deltas. Ornithologen ergötzen sich an den vielen Vogelarten, darunter den Krauskopf- und Rosapelikanen. Hunderte, vermutlich tausende kleine Boote, aber auch viele Passagier- und Kreuzfahrschiffe bugsieren die vielen Schaulustigen in die verschiedensten Ecken des Deltas. Die vielen Tourenanbieter bieten Ausflüge zu jedem Geschmack an. Auch Pascal profitiert von der Infrastruktur im Delta, bietet es doch nach vielen unbequemen Nächten in freier Natur wieder komfortable Übernachtungsmöglichkeiten. Ein Paradies? Ein wenig kommen erste Zweifel auf.

Nach einer abenteuerlichen Fahrt über vier Stunden von Bukarest erreichten auch Nils und Matse gestern Abend noch Tulcea. Die letzten beiden Etappen wollten sich die Jungs mit der Kamera nicht entgehen lassen. 9:15 Uhr in der Früh machte sich Pascal auf den Weg. Und es sollte nochmal eine harte Prüfung für ihn werden. Den ganzen Tag hatte er mit teilweise heftigem Gegenwind zu kämpfen. Schon nach der ersten Kurve hinter Tulcea blies ihm eine steife Brise ins Gesicht. Auf einer normalen Etappe hätte Pascal die Etappe vermutlich verkürzt. Er möchte aber zeitnah sein finales Ziel, das Schwarze Meer, erreichen, und so biss er die Zähne zusammen und zog heute durch. Mit zehn Stunden war es zeitlich die bisher längste Etappe. Über 15.000 Paddelschläge mit einem Schnitt von 335 auf den Kilometer sind Zeugnis einer körperlichen Schwerstarbeit. Der Wind reduzierte seine Durchschnittsgeschwindigkeit auf rund 5 km/h. Pascal bemerkte aber auch, dass er sich körperlich sehr fit fühlt, heute galt es eher das Mentale zu überwinden.

Nur wenige Kilometer nach Tulcea spaltet sich die Donau ein weiteres Mal. Der südliche Arm bildet in vielen Kehren gleichzeitig die südliche Grenze des Mündungsdreiecks. Pascal nahm den anderen Arm, der mitten und geradeaus durch das Delta führt und schließlich nach Sulina in das Schwarze Meer mündet, den sogenannten Sulina-Arm. Er ist nur von fünf kleinen Orten gesäumt, die vorwiegend aus Pensionen und Hausbooten bestehen und nur über Wasser erreichbar sind.

Eine wirkliche Naturidylle kommt auf dem Sulina-Arm nicht auf. Letztendlich ist es eine breite Fahrrinne für den Schiffsverkehr, die im 19. Jahrhundert ausgebaggert und begradigt wurde und sich auf einer Länge von 64 Kilometern erstreckt. Der Sulina-Arm führt nur rund 18% des Donauwassers, er ist aber der am wenigsten verschlammte Arm, da er permanent ausgebaggert wird, insbesondere um den Schiffsverkehr aufrecht zu erhalten. In Reiseberichten wird auch von einer „Wasserautobahn“ gesprochen. Immer wieder kommen Flussabzweigungen und große Seen an seinen Seitenrändern auf.

Zwei Pausen legte Pascal heute ein, das war auch dringend nötig ob der langen Etappe. Wie immer war er von sehr viel Müll umgeben. Auch einen regen Schiffsverkehr, vor allem in Form von kleinen Booten und Wassertaxis, konnte er beobachten, die „Wasserautobahn“ bestätigte sich. Er spürt, dass das Wetter nun so langsam umschlägt. Erste Herbstwinde kommen vom Meer herein. Und diese Winde verstärkten auch einen Brand, den Pascal aus der Ferne sehen konnte. Vermutlich war es kleines Schilfrohrfeld. Genaueres konnte Pascal aber nicht erkennen. Nach der zweiten Pause hieß es dann für Pascal sich zu sputen, denn bald würde die Dunkelheit aufkommen, und eine Ankunft in der Dunkelheit wollte er unbedingt vermeiden.

Nach dem kleinen Ort Gorgova, rund fünf Kilometer nördlich des Sulina-Arms, befindet sich der kleine Ort Mila 23, dessen Name sich schlichtweg auf die Flussmeile 23 bezieht. Im 17. Jahrhundert wurden vom russischen Zar die sogenannten Lipowaner, eine religiöse Minderheit der Altgläubigen, vertrieben. Einige davon siedelten sich hier an. Bis heute sprechen sie ein altertümliches Russisch und leben eher abgeschottet von ihrer Umwelt. Nachdem ihre alte Kirche eingestürzt war und Ceauşescu den Bau neuer Gotteshäuser in Rumänien untersagte, nutzen die Lipowaner 1981 die Gunst der Stunde. Während der Dorfpolizist in die Ferien fuhr, bauten sie innerhalb weniger Tage eine neue Kirche, die heute noch erhalten ist. Es ist ein idyllisches Dorf, mit den für Russland typischen in kräftigen Blau und Grün gehaltenen Holzhäusern, dessen Leben sich vollständig auf dem Wasser abspielt. Auch in der Nähe setzt man auf den Glauben, eine Gruppe von Mönchen aus Moldawien errichtete unweit ein Kloster im Delta.

Nach der letzten Kurve konnte Pascal dann schon so langsam das Meer riechen. Der Sulina-Arm geht von hieran schnurstracks geradeaus. Die Donau ist hier rund 80 bis 100 Meter breit, die Ränder sind mit großen Steinen aufgeschüttet. Pascal erinnerte die Passage an Dillingen an der Donau, seine Heimat, wo die Donau ganz ähnlich ausschaut. Schließt sich hier vielleicht der Kreis? Auf jeden Fall gab es Pascal nochmal einen großen Motivationsschub für die letzten Kilometer.

Schließlich erreichte Pascal gegen 19:15 Uhr das Tagesziel Crisan. Der kleine Ort liegt am südlichen Ufer der Donau und erstreckt sich über mehrere Kilometer. Dafür ist das Dorf aber nicht sonderlich breit, in der Regel bauen sich in Richtung Süden maximal zwei Häuserreihen auf. Pascal wird heute mit einer tollen Unterkunft für die harte Etappe entschädigt. Nach der Ankunft gönnte er sich erstmal ein kühles Bier, das er sich heute wohlverdient hatte. Sein Fazit vom Tag: „Ich habe das Gefühl, dass die Donau mich nicht loslassen will. Oder warum hat sie mir den Tag heute so schwer gemacht?“ Den Abend lässt er nun gemeinsam mit Nils und Matse, die heute immer mal wieder per Boot für einige Drehsequenzen zu ihm stießen, entspannt bei einem gemütlichen Dinner ausklingen. Pascal ist schon voller Vorfreude auf die morgige Etappe. Und besonders glücklich ist er über das Knacken von 10.000 € Spenden. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an alle Spender!

Ein boomender Tourismus, er ist natürlich auch im Donaudelta eine Gratwanderung. Auf der einen Seite sprudeln die Einnahmen in einer sonst strukturschwachen Region, die von Armut, Arbeitslosigkeit und Wegzug geprägt ist. Andererseits bleibt die Frage, wie viele Menschen vor Ort tatsächlich am Ende profitieren. Die Touristen, sie kommen ausschließlich im Sommer, oftmals nur für wenige Stunden ins Delta. Sie bekommen vom extremen Leben, das die Menschen vor Ort führen, nur wenig mit. Der Sommer ist furchtbar heiß, der Winter extrem kalt, bis zu minus 25 Grad. Die Gewässer frieren zu, die Dicke des Eises beträgt zeitweise bis zu einem Meter. Die Menschen sind völlig auf sich allein gestellt, ihre Dörfer von der Welt komplett abgeschnitten. Und wie immer hinterlässt der Tourismus seine Spuren, in Form von Müll, von Ruhestörungen für die Tiere, die in ihrer natürlichen Lebensweise gestört werden, und von abnehmenden Fischbeständen – zum Leid der einheimischen Fischer, die früher vom Fischfang leben konnten, aber heute strengen Vorschriften unterliegen und die kaum Perspektiven haben. Konnten die Fischer früher bis zu 400 kg Fisch pro Tag fangen, so können sie sich heute glücklich schätzen, wenn sie noch auf 100 kg kommen, oftmals sind es eher 20 kg. Ehemalige Fischkonservenfabriken, die heute nur noch als leerstehende Ruinen im Delta existieren, sind Zeugnis des tragischen Wandels. Aber immerhin, es bestehen Hoffnungszeichen. Es gibt erste Projekte für einen behutsamen Ökotourismus, die von Rumänien, der EU und der Deltaverwaltung ins Leben gerufen wurden – immerhin schon mal auf Papier.

Morgen steht für Pascal die finale Etappe an. Der Turm von Sulina und das Schwarze Meer rufen. Hoffen wir, dass bei Pascal keine Traurigkeit aufkommt. Ansonsten gilt es sich an die Worte von Henry David Thoreau, der zwei Jahre allein in einer einsamen Blockhütte mitten in der freien Wildnis verbrachte und seine täglichen Erfahrungen in seinem Buch Walden festhielt, zu halten: „Wer das Plätschern der Flüsse hört, wird nicht gänzlich verzweifeln.“ Vermutlich wird bei Pascal aber die Vorfreude deutlich überwiegen. TF