06.09.2017. Sie wächst in einem kleinen deutschen Dorf im Banat, mitten in einer abgelegenen Berglandschaft in Rumänien auf. In ihrer Einsamkeit fängt sie an mit Pflanzen zu sprechen, sie werden ihre besten Freunde. Später zieht sie in die Stadt, sie möchte Rumänisch lernen, es sprechen und verstehen können. Sie beginnt nach der Schule ein Studium der Germanistik und Romanistik und heuert später als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik an. Irgendwann wird sie angesprochen, ob sie nicht Berichte schreiben könnte, über den einen oder anderen ihrer Kollegen. Sie kann es einfach nicht. Sie lehnt ab. Und daraufhin machen sie ihr das Leben zur Hölle. Sie denunzieren sie als Hure, die es mit den Arabern treibt. Sie entziehen ihr das Büro. Sie wollen sie rausschmeißen. Sie soll aber selber kündigen. Den Gefallen tut sie ihnen nicht. Sie setzt sich Tag ein, Tag aus auf eine Treppe der Fabrik und übersetzt Texte, die keiner braucht. So kommt sie zum Schreiben. Alle Kollegen meiden sie. Sie haben Angst selber in die Fänge zu geraten. Auch Freunde hat sie nicht. Sie hat eigentlich niemanden. Und dennoch ist sie nie allein. Permanent verfolgt man sie. Immer wieder holen sie sie ab und verhören sie. Einmal fahren sie mit ihr in den Wald. Niemand ist zu sehen. Sie soll aussteigen. Sie steigen auch aus. Das war es jetzt. Es ist aber nur eine letzte Warnung. Sie fahren weg und lassen sie im Wald stehen.
Diese Geschichte, sie ist eine kurze Zusammenfassung des frühen Lebensweges von Herta Müller, der rumänisch-deutschen Nobelpreisträgerin für Literatur, die in ihren Werken die kommunistische Diktatur in Rumänien zum Thema machte. Auf seiner Passage durch Rumänien muss Pascal immer wieder an sie, ihre Biographie und ihr Hörbuch Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel: Ausgewählte Reden und Aufsätze denken – an diese starke Frau, die sich nicht hat brechen lassen. Und auch für Pascal ein Vorbild ist, an sich selber zu glauben und diese Reise durchzuziehen. Denn wenn man bedenkt, was diese Frau durchstehen musste und wie gut es einem eigentlich heutzutage in unseren Gefilden geht, dann werden die körperlichen Strapazen der Reise plötzlich erträglicher.
Pünktlich gegen 9 Uhr in der Früh machte Pascal sich auf den Weg. Und er scheint derzeit sehr gut drauf zu sein. Knapp 70 Kilometer ist er heute gepaddelt. Damit toppt er nochmal die Länge der gestrigen Etappe und erreicht einen neuen Spitzenwert. Chapeau! Eine große Liebeserklärung galt dabei heute mal wieder der Donau. Sie bietet Pascal derzeit eine konstante Strömung, die ihm das Paddeln erleichtert. Dazu kamen ein leichter Rückenwind und angenehme Paddel-Temperaturen, wodurch er die ersten 30 Kilometer sogar langärmlig paddelte. Es läuft. Und dann die Breite der Donau: sie scheint ins Unermessliche zu gehen. Wahrlich beeindruckend.
Die Einsamkeit, die dünn besiedelte Region mit ihren naturbelassenen Ufern, den vielen Sandbänken in der Donau, es hat Pascal auf eine Sache in den letzten Tagen aufmerksam gemacht: er sah wesentlich weniger Plastikmüll. Und es wird ihm wieder deutlich, wie wir eigentlich mit dem Planeten umgehen. Denn die Natur, die uns Leben spendet, es uns ermöglicht, sie bräuchte uns eigentlich nicht. Wir aber sind auf sie angewiesen, und gehen so schändlich mit ihr um.
Zwei Pausen legte Pascal heute nach 30 und 45 Kilometern ein. Allzu lang hielt er sich aber nicht auf. Es galt ja viele Kilometer zu überwinden. Menschen hat er kaum gesehen, geschweige denn mit einem gesprochen. Die Inseln wurden heute weniger, dafür waren sie aber groß und langgestreckt. Die Insel Calnovat, die er kurz vor dem Ende seiner Etappe erreichte, misst zum Beispiel eine Länge von rund zehn Kilometern.
Nach rund 50 Kilometern paddeln folgte auf rumänischer Seite die kleine Hafenstadt Corabia. Der Name des Ortes geht auf die Überreste eines Segelschiffs aus Genua zurück, dessen Name Corabia gewesen sein soll. Einen großen Aufschwung erlebte die Stadt zu kommunistischen Zeiten. Fabriken stampften aus dem Boden, von denen jedoch nach dem Zusammenbruch des Ostblocks viele schließen mussten. Heute gibt es im Ort Reste einer Burg, eine Statue von Alexandru Ioan Cuza, der die Grundlagen des späteren Rumäniens legte, und die orthodoxe Kathedrale „Heilige Dreieinigkeit“, eines der größten Gotteshäuser in Rumänien.
Nach knapp 70 Kilometern war es dann genug der Paddelei. Pascal sah vom Fluss aus ein idyllisches Plätzchen zum Anlanden, das sich kurz vor dem Ort Somovit befindet. Er hat sich bereits bis zum Flusskilometer 609 durchgeschlagen, und so ganz nebenbei die 1.850 Kilometermarke geknackt. Da er keine Unterkunft gebucht hatte, heißt es mal wieder Campen. Und so schlug Pascal sein Zelt auf, legte Isomatte und Schlafsack aus und gönnte sich am Abend ein selbstgemachtes Abendessen mit Blick auf die Donau in einer ruhigen und schönen Natur. Und dann wurde er auch noch mit einem schönen Sonnenuntergang belohnt. Beneidenswert.
Herta Müller konnten Pascal und ich übrigens einmal live bei einer Veranstaltung des Münchener Literaturhauses sehen. Sie ist eine sehr kleine, zierliche, ältere Dame. Sobald sie aber anfing zu sprechen, spürte man sofort eine Aura, den Charakter, ein Selbstwertgefühl, an dem letztendlich auch der rumänische Securitate scheiterte. Trotz Todesandrohungen konnte der Geheimdienst Herta Müller nicht brechen. „Wenn ich das mache, kann ich nicht mehr mit mir leben.“ dachte sie sich bei den Anwerbungsversuchen des Geheimdienstes. 1987 konnte sie endlich nach Deutschland ausreisen. Tagelang wurde sie vom BND und Verfassungsschutz verhört. Man verdächtigte sie eine rumänische Spionin der Securitate zu sein. Eine Ironie der Geschichte. Der Securitate wurde 1990 aufgelöst. Er galt als eine der brutalsten Geheimdienste, vergleichbar mit dem KGB oder der Stasi. Durch seinen Terror verloren nach Schätzungen rund 200.000 Menschen ihr Leben. Eine Aufklärung verlief in Rumänien nur schleppend voran. Bis 2015 war nur ein Bruchteil der ehemaligen Spitzel enttarnt. Sie fanden gut dotierte Positionen in Wirtschaft und Politik. Noch so eine Ironie der Geschichte.
Morgen folgt wieder eine lange Etappe für Pascal, es geht nach Svištov. TF