03.09.2017. 500 Jahre. Kein anderes europäisches Land wurde so lange von den Osmanen beherrscht wie Bulgarien. Bis 1878 wehten auf den Dächern die Flaggen des Halbmondes. Lange Zeit galt Bulgarien für die Westeuropäer als unerforscht, ja sogar fremdartig, als orientalisch, als Randfläche der zivilisierten Welt – „das unbekannteste Gebiet Europas“. Auch heute noch stellen die Türken eine wichtige Minderheit in Bulgarien dar. Sie machen knapp 10% der bulgarischen Bevölkerung aus, und ihre Partei spielt oftmals das Zünglein an der Waage im Rahmen von Regierungsbildungen. Hinzu kommen Pomaken, Tataren und Tscherkessen, die ebenfalls muslimisch geprägt sind. Kulturprägend ist jedoch nach wie vor die byzantinisch-orthodoxe Kirche, nicht umsonst sehen sich viele Bulgaren als Bewahrer von Byzanz. Es ist ein buntes Land der Völker, das Pascal das erste Mal in seinem Leben betreten hat.
Auch wenn Pascal mal wieder ein festes Bett unter sich hatte, einen richtig guten Schlaf konnte er auch gestern nicht finden. Eine Gruppe Jungliteraten debattierte bis tief in die Nacht vor seinem Fenster. Hinzu kamen die große Hitze und fehlende Vorhänge. So fühlte er sich heute Morgen etwas müde, der ein oder andere Wein vom Abend hatte sicherlich auch das Seinige getan. Sein großer Dank gilt Sergiu vom Port Culturale Cetate, der ihm die spontane Übernachtung im Kulturzentrum ermöglichte.
Pascal entschied sich heute spontan bis nach Vidin zu paddeln. Es wurde mehr oder weniger ein „Sonntagsspaziergang“ auf der Donau. Vidin ist nur rund 20 Kilometer von Cetate entfernt, und so benötigte Pascal nur 2:45 Stunden für die Etappe. Es sind Streckenlängen, die für ihn mittlerweile eine Leichtigkeit darstellen. Nach bald 1.700 Kilometer paddeln hat sich sein Körper bestens angepasst, er verfügt über genügend Grundlagenausdauer, und auch die Muskulatur, die Sehnen und die Knochen sind an die tägliche, körperliche Betätigung gewöhnt.
10:45 Uhr machte Pascal sich auf den Weg. Kurz nach Cetate zieht es die Donau wieder nach einer langen Kehre in südwestliche Richtung. Und von hier aus konnte Pascal schon die große Brücke von Vidin erkennen. Vor der Brücke kam eine kleine Insel in der Donau auf, und an dieser Stelle pfiff es mal wieder aus dem Busch. Ein bulgarischer Polizist kam zum Vorschein und Pascal zeigte seine Dokumente. Der Polizist war überaus freundlich und erklärte Pascal alles Nötige, wo und wie er in Vidin in Bulgarien einklarieren kann. Pascal setzte seine Etappe fort und landete wenig später schließlich in Vidin an.
Wie so typisch für die Region liegen sich an dieser Stelle zwei Städte gegenüber, sogenannte Donauzwillinge. In diesem Fall ist es auf rumänischer Seite die kleine Stadt Calafat, die im 14. Jahrhundert von Händlern aus Genua gegründet wurde, damals eine große See- und Handelsmacht und Hauptkonkurrent der Venezianer.
Vidin, auf bulgarischer Seite, wurde bereits von Kelten besiedelt, war später wichtige Stadt der römischen Provinz Moesia, lange Zeit von Osmanen beherrscht und später von bulgarischen Zaren regiert – wie bei so vielen Orten Südosteuropas eine wechselhafte Geschichte. Wichtigste Sehenswürdigkeit ist die Festung Baba Vida, die bereits zu Römerzeiten errichtet wurde und direkt an der Donau liegt. Früher gab es im Ort etwa 25 Minarette, davon ist aber nur noch eins übrig geblieben. Dieses Minarett hat aber eine besondere Spitze: sie ist nicht, wie so typisch, mit einem Halbmond, sondern mit einem Herz geschmückt – als Zeichen der Toleranz, die der einstige Pascha zwischen den verschiedenen Völkern der Region fördern wollte.
Zu kommunistischen Zeiten setze eine starke Industrialisierung ein, unter anderem durch die Schaffung eines großen Chemiekombinats. Auch heute noch hängen die meisten Arbeitsplätze an den Fabrikanlagen. Allgemein hat die Region mit einem großen Fachkräftemängel zu kämpfen, da vor allem junge und gebildete Menschen der Region den Rücken kehren.
Neue Hoffnung auf einen Aufschwung kam durch die Errichtung der Brücke „Neues Europa“ auf, die mit einer Gesamtlänge von 3,6 Kilometern die längste Donaubrücke ist. Wenige Monate nach der Fertigstellung 2012 identifizierte man bereits rund 20 problematische Stellen an der Brücke. In den Verträgen wurden jedoch keine Regresspflichten vereinbart, so werden die Kosten dafür der rumänische und bulgarische Steuerzahler tragen müssen. Auch die weitere Verkehrsanbindung und die Entwicklung der lokalen Wirtschaft konnten mit der Errichtung der Brücke nicht schritthalten. So wird die Brücke auch gerne als „Brücke ins Nichts“ bezeichnet. Interessanterweise ist die Donau an der engsten Stelle in Vidin, wie auch in der gesamten Region, 750 Meter breit. Pascal erinnerte sich an Passau, wie die Donau auf eine Breite von 150 Meter eingezwängt wurde. Es ist schon unglaublich, in welche Breiten sich die Donau über die vielen Hundert Kilometer entwickelt hat.
Pascal konnte sein SUP an der Anlegestation deponieren, und machte sich anschließend auf, um offiziell im achten Land seiner Reise, Bulgarien, einzuklarieren. Eine Polizistin, die sehr gutes Englisch sprach, erledigte rasch alle Formalitäten und so hieß es nochmal kurz auf den Zollbeamten zu warten. Nachdem auch der Zollbeamte beglückt wurde, ging es für Pascal dann auf zum Hotel, dass etwa 1,5 Kilometer von der Donau entfernt liegt. Später begab er sich auf einen Spaziergang durch die Stadt. Ihm fielen die zwei Gesichter auf: auf der einen Seite schöne Gebäude und viele Statuen, aber auf der anderen Seite auch viel Verfallenes. Pünktlich zum Kuchen, den er sich in seinem Hotel gönnte, kam der erwartete Regenschauer auf, der die heiße Luft hoffentlich etwas abkühlt. Am Abend möchte Pascal einfach nur die Füße hochlegen und vor allem guten und ausgiebigen Schlag finden, denn morgen steht wieder eine längere Etappe an.
Der Antrieb, sich vom Joch der Osmanen zu befreien, kam übrigens so richtig in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Ein von russischer Seite proklamierter Panslawismus, die Vereinigung aller slawischen Völker, fand großen Anklang in der bulgarischen Bevölkerung. Puschkin schrieb von den slawischen Bächen, die ins russische Meer fließen sollten. Der 28-jährige Christo Botev, der tragische Nationalheld, war Anführer der Revolution. Mit 200 Mann kaperte er das österreichische Passagierschiff Radetzky und setzte auf die bulgarische Seite der Donau über. „Es lebe das christliche Europa. Es lebe Bulgarien!“ rief er beim Verlassen des Schiffs. Drei Tage später wurde er im Kampf getötet.
Die Osmanen rächten sich bitterlich, sahen sie doch Bulgarien als muslimisches Land. Und hatten sie ihnen nicht viele Freiheiten gegeben? Sie tolerierten ihren Glauben, sie bauten eine Eisenbahn, sie gaben ihnen politische Mitbestimmung. Nie hätten sie mit einer Revolution gerechnet. Die Zerschlagung des Aufstands und die begangenen Gräueltaten provozierten schließlich das russische Zarenreich, das sowieso nur auf einen Auslöser gewartet hatte. Durch ein riesiges Herr, unterstützt von rumänischen Verbänden, wurden die Osmanen schließlich im russisch-türkischen Krieg 1877/78 vertrieben und Bulgarien befreit. Der Traum von einem Großbulgarien löste sich jedoch schnell in Luft auf. Im Berliner Kongress wurde das Land aufgeteilt: ein Zarentum im Norden und ein Fürstentum im Süden, das weiter tributpflichtig an die Osmanen blieb. Bulgarien ist ein Land, das definitiv mit einer spannenden Geschichte aufwartet.
Morgen geht es für Pascal weiter nach Lom auf der bulgarischen Seite der Donau. TF