Tag 22: Von Szigetbecse nach Dunaújváros – 20,3 km – 4:35 Stunden – 6.888 Paddelschläge – Gesamtkilometerstand: 871,3 km

Tag 22: Von Szigetbecse nach Dunaújváros – 20,3 km – 4:35 Stunden – 6.888 Paddelschläge – Gesamtkilometerstand: 871,3 km

10.08.2017. Ungarn, das Land der großen Traumata. Da war die vernichtende Niederlage gegen die Türken bei Mohács 1526. Der Vertrag von Trianon 1920, bei dem Ungarn zwei Drittel seiner Flächen verlor, ein Viertel der ungarischen Bevölkerung befand sich plötzlich auf fremdem Boden. Und dann der ungarische Volksaufstand 1956, als die rote Armee kurzen Prozess machte. Schüler fragen öfters im Geschichtsunterricht, wann sie, die Ungarn, eigentlich mal gewonnen haben. Immerhin hatten sie unter den gruseligen Tyrannen der Ostblockstaaten mit János Kádár noch denjenigen, der das humanste Antlitz zeigte – trotz der einen oder anderen Schandtat zu Beginn seiner Herrschaft. Kádár war im Volk nicht unbeliebt, hatte er doch einen puritanischen Lebensstil, vermied den sonst so typischen Personenkult der Zeit und hatte durchaus Sinn für Humor. Vom Sozialismus light oder Gulaschkommunismus wird gesprochen. Auch durch ihn wurde am Ende ein gewaltfreier Übergang in die Demokratie geschaffen. Dunaújváros, der heutige Zielort, steht symbolhaft für die sozialistische Zeit, aber dazu später mehr.

Zunächst mal hieß es für Pascal 20 Kilometer Paddeln bis zum Tagesziel – eine eher kurze Etappe. Der Start erfolgte gegen 11:30 Uhr. Die ersten Kilometer gestalteten sich für Pascal äußerst zäh. Es gab keine Strömung, die Sonne knallte mit 35 Grad von oben herunter und hinzu kam wieder mal spürbarer Gegenwind – und dann hatte Pascal noch die schwere Etappe von gestern in den Knochen. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 5 km/h schlich er dem Ende des Donauseitenarms entgegen. Dennoch nahm er es locker, er wusste ja um die Kürze der heutigen Etappe und gönnte sich die ein oder andere Pause, auch um mehr Fotos zu schießen.

Bei den Pausen an den Ufern fiel es ihm wieder mal auf: Überall lag Plastikmüll herum. Es ist etwas was ihm immer wieder auf seiner Reise im Kopf umgeht: Warum zerstören wir eigentlich unsere eigenen Grundlagen? Warum gehen wir so mit diesem Planeten um? Herumliegender Plastikmüll ist letztendlich nur ein Beispiel für den schädlichen Umgang mit der Natur. Und was ihn mit am meisten überrascht: Selbst an Anglerplätzen sah er immer wieder Plastikmüll. Angler, die eigentlich ein klares Bewusstsein für die Natur haben sollten, da sie intensiv deren Ressourcen nutzen, selbst ihnen fehlt es an Achtsamkeit. Eine traurige Erkenntnis, ohne natürlich die Angler über einen Kamm scheren zu wollen.

Es fällt einem Jared Diamonds Buch Kollaps ein. Er beschreibt in seinem Buch Gesellschaften der Vergangenheit, die untergegangen sind. Hauptgründe waren Hass, Egoismus, Machtbegierde – und insbesondere der schändliche Umgang mit den natürlichen Ressourcen. Sein Fazit: Die größte Erkenntnis aus der Geschichte der Menschheit ist, dass die Menschheit nichts aus ihrer Geschichte lernt. Bitter, aber wahr.

Nach rund zwölf Kilometern mündete der Nebenarm wieder in die breite Fahrrinne. An der Stelle befindet sich auch nochmal ein Stauwehr, das Pascal umlaufen musste, da die Schleuse nur alle ein bis zwei Stunden geöffnet wird. Die Schleuse umlaufend, konnte Pascal einen guten Blick auf den Hauptstrom werfen. Den beschaulichen Nebenarm, auf dem Pascal die letzten beiden Tage paddelte, überragte die Hauptfahrinne mindestens um das Fünf- bis Sechsfache – die Breite war für Pascal schlichtweg beeindruckend.

Nach der Schleuse machte er einen kurzen Stopp an einem Strandrestaurant. Statt aber Leichtbenzin in Form von gesunder Kost zu tanken, nahm Pascal Schweröl in Form von Fastfood zu sich. Das Anlaufen nach der Pause gestaltete sich für ihn entsprechend. Dennoch waren die letzten sechs Kilometer dann für Pascal nichts anderes als entspanntes „Auslaufen“. Durch die erhöhte Strömung der Fahrrinne schoss er mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 11 km/h dem Ziel entgegen.

Was Pascal auch heute wieder auffiel, ist die Hilfsbereitschaft der Menschen in Ungarn. Zwar fällt die Kommunikation im ländlichen Bereich äußerst schwer, da die wenigsten hier Englisch sprechen. Mit Händen und Füßen schafft er es aber sich mit den Menschen zu verständigen. So konnte er es auch vermeiden an einer Stelle ins Wasser zu springen, an der viele Steine unter der Wasseroberfläche lauerten, dank des Tipps eines Passanten.

Gegen 16 Uhr erreichte er schließlich das Tagesziel Dunaújváros. Am Abend werden wieder Nils und Matse zu ihm stoßen, um in den nächsten Tagen weiteres Filmmaterial mit Pascal zu drehen. Die beiden haben den Tag in Budapest verbracht und das ein oder andere Interview geführt. Zusammen wollen sie den Abend am Ufer in schöner Abendstimmung ausklingen lassen – wahrscheinlich wird auch das ein oder andere ungarische Kaltgetränk fließen.

Dunaújváros wurde übrigens nach dem zweiten Weltkrieg als sozialistische Musterstadt errichtet. Zunächst sollte die Stadt Stalinstadt heißen, aber 1961 entschied man sich für Dunaújváros. Die Stadt wurde Heimat für die Arbeiter der lokalen Stahlwerke. Ursprünglich sollte die Retortenstadt bei Mohács an der Grenze zum ehemaligen Jugoslawien liegen. Die Beziehungen zu Tito galten aber als angespannt, so zog man den heutigen Standort vor. Heute ist die Stadt eine Mischung aus sozialistischem Realismus und Plattenbauten in bunten Farben. Größter Arbeitgeber sind nach wie vor die Stahlwerke. Die Donau wurde hier massiv reguliert und in Dämme gezwängt. Wer auch mal in Deutschland ein Gefühl für sozialistische Planstädte gewinnen möchte, dem sei ein Besuch des brandenburgischen Eisenhüttenstadt empfohlen. TF

PS: Ab morgen bis Dienstag wird für Euch Dorothee Pascals Reise kommentieren. Ich selber werde die Wasserlandschaften rund um Stockholm inspizieren.